Zur Geschichte der Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie
von Prof. Dr. Manfred Wolter
Der Gründer unserer Fachgesellschaft, Prof. Dr. Wilhelm Griesinger (1817 - 1868; das Grab von W. Griesinger befindet sich auf dem St. Matthäus-Kirchhof, Größgörschenstr. 12, 10829 Berlin), begann am 01. April 1865 seine Tätigkeit in Berlin als "Dirigierender Arzt an der Abteilung für Gemütskrankheiten und für Nervenkrankheiten an der Königlichen Charité zu Berlin". In den Berufungsverhandlungen hatte er als Neuerung die zusätzliche Einrichtung einer Neurologischen Abteilung unter seiner Zuständigkeit erreicht. In den ersten zwei Jahren war er auch als Nachfolger von Moritz Heinrich Romberg (1795 - 1873) Leiter des Poliklinischen Institutes für Innere Medizin an der Friedrich-Wilhelms-Universität. Durch Griesingers vorausgegangene Tätigkeiten als Allgemeinarzt, in der Psychiatrie und Inneren Medizin bestanden vielseitige Interessen und Erfahrungen. Sein Hauptanliegen war, durch eine zusammenfassende Sichtweise von körperlichen und psychischen Lebensvorgängen Fortschritte für die Psychiatrie zu erreichen und sie von einer Außenseiterposition sowie spekulativen Naturphilosophie in der damaligen Medizin zu befreien. Mit neun weiteren Gründungsmitgliedern, darunter auch der Völkerpsychologie Moritz Lazarus (1824 - 1903), der Leiter der "Privatirrenanstalt Schweizer Hof" in Berlin-Zehlendorf Bernhard Heinrich Laehr (1820 - 1905), der bald zu einem intensiven Kritiker der Psychiatrie-Reformvorstellungen von Wilhelm Griesinger wurde, und Carl Westphal (1833 - 1890) aus der Charité erfolgte Anfang 1867 die Gründung der "Berliner medicinisch-psychologischen Gesellschaft". Nach Griesingers Aussage verstehe er "unter Psychologie überhaupt nichts anderes, als eine empirische, eine Beobachtungs-, eine Naturwissenschaft".
Die erste Sitzung der Gesellschaft fand mit Griesinger als gewähltem Vorsitzenden und Carl Westphal als Schriftführer am 29. Januar 1867 statt. Im Protokoll dieser Sitzung wird unter den Zielen der Gesellschaft darauf verwiesen, dass sie sich besonders mit psychiatrischen Fragen beschäftigen und neben den wissenschaftlichen Mitteilungen sich auch praktischen Problemen, besonders den forensischen, widmen werde. Das Status von 1910 gibt als Zweck des Vereins die Förderung der Psychiatrie und Nervenheilkunde sowie deren Hilfswissenschaften an.
In den ersten Jahren wurden überwiegend psychiatrische Themen auf den Sitzungen vorgetragen sowie forensische und einige psychologische Probleme behandelt. Ab 1879 überwogen die neurologischen Themen mit zunehmender Tendenz im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Bei der 25-Jahr-Feier 1892 sah Friedrich Jolly (1844 - 1904) darin einen Beleg für den zum erheblichen Teil von Psychiatern herbeigeführten Fortschritt der Erforschung der Nervenkrankheiten neben dem Aufschwung der anatomischen und physiologischen Kenntnisse. 1879 erfolgte deshalb die Namensänderung in "Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenkrankheiten". Die Dominanz der neurologischen Themen in den beiden letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts setzte sich in den folgenden Zeitabschnitten nicht in diesem Ausmaß fort. 1933 wurde erneut der Name geändert in "Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie". In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das Verhältnis der psychiatrischen zu den neurologischen Beiträgen annähernd ausgeglichen. Der erste neurochirurgische Vortrag erfolgte 1895. Neben den psychiatrischen und neurologischen Vorträgen und Demonstrationen wurden neuroanatomische, neuropathologische und allgemeine neurowissenschaftliche Themen behandelt. Karl Bonhoeffer (1868 - 1948) wies 1927 darauf hin, dass der Vorwurf, die Psychiatrie sei in der Gesellschaft in den vorausgegangenen Zeitabschnitten zu kurz gekommen, nicht zutreffe, weil nicht allein die Zahl der Vorträge entscheidend sei. Es seien wichtige Beiträge zur Paranoiafrage, den Zwangsvorstellungen und den epileptischen Psychosen erfolgt und es habe die Kenntnis des Alkoholismus, der Paralyse, der Epilepsie und der psychopathischen Zustände auch in der Zeit der überwiegend neurologischen Einstellung der Gesellschaft eine wichtige Bereicherung erfahren.
Eine besondere Verbindung der BGPN bestand immer zur Nervenklinik der Charité und seit über 100 Jahren finden die Sitzungen in dem am 22.04.1901 vom Vorsitzenden Friedrich Jolly eröffneten Hörsaal statt.
Die Mitgliederzahl betrug im Gründungsjahr 1867: 24, 1892: 120, 1927: 220 und in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts ca. 400 Mitglieder, davon ein Drittel in der damaligen Regionalgesellschaft im ehemaligen West-Berlin. In den beiden letzten Jahren des Zweiten Weltkrieges (1939 - 1945) fanden keine Sitzungen mehr statt, und mit dem Zusammenbruch Deutschlands 1945 hatte die Gesellschaft zu bestehen aufgehört. Durch Befehl der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland vom 21.05.1947 wurde die Organisation medizinisch-wissenschaftlicher Gesellschaft wieder zugelassen. Am 08.12.1947 wurde die BGPN in der Charité wiedergegründet, um mit der ersten Nachkriegssitzung die alte Tradition fortzusetzen.
Infolge der weiteren politischen Entwicklung in Berlin mit der Teilung der Stadt erfolgte durch im Westteil der Stadt wohnende Fachkollegen, die überwiegend Mitglieder der Gesellschaft waren, am 25.02.1953 eine Gründung der BGPN für die damaligen "Westsektoren" der Stadt. Im Gründungsprotokoll wurde vermerkt, dass bis zur Wiedervereinigung die Sitzungen in der Psychiatrischen und Nervenklinik der Freien Universität Berlin stattfinden. Bis zur völligen Teilung der Stadt 1961 durch Errichtung der Berliner Mauer besuchten Mitglieder der Regionalgesellschaft in West-Berlin auch Sitzungen in der Charité und umgekehrt.
Durch die neuen politischen Möglichkeiten erfolgten 1989 umgehend Kontakte zwischen den Vorsitzenden der Regionalgesellschaften im ehemaligen Ost- und West-Berlin. Am 18. und 19.04.1990 wurde ein erstes gemeinsames Symposium der beiden Teilgesellschaften durchgeführt, und am 23.02.1991 konnten mit Zustimmung der jeweiligen Mitgliederversammlungen die Regionalgesellschaften wieder zu einer "Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie" zusammengeführt werden.
Es war hier nur möglich, auf die historischen Rahmenbedingungen seit der Gründung im Jahr 1867 hinzuweisen, ohne Auswertung der vielen Belege für wichtige Beiträge von Mitgliedern der Gesellschaft zur Entwicklung der Fachgebiete, wobei eine ganze Reihe besonders im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch entscheidende wissenschaftliche Bedeutung über den regionalen Bereich hinaus hatten. Unter den Vorsitzenden waren Persönlichkeiten, die sich mit ihrer Arbeit einen herausragenden Platz in der Gesichte der Disziplinen erworben haben, deren Förderung die vorgenommene Aufgabe der Gesellschaft war. Im evolutiven Prozeß der Wissenschaft mussten trotz wichtiger Ergebnisse auf dem historischen Weg manche früheren Postulate wie die Einheit von Psychiatrie und Neurologie, die zum großen Nutzen für die Patienten heute eigenständige Fachgebiete sind, aufgegeben werden. Es bleiben aber auch bei konzeptioneller Neuorientierung auf interdisziplinäre Grenzgebiete und auf neurowissenschaftliche Grundlagen der Fachrichtungen mit Akzeptanz einer somatologischen und psychologischen Sichtweise und Förderung des schon vom Gründer Griesinger angestrebten Zieles, dass die Empirie immer die Grundlage unserer Arbeit bleiben müsse, wie Karl Bonhoeffer einmal forderte, auch im 21. Jahrhundert noch viele Aufgaben für die Mitglieder der Gesellschaft.